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Ohrenkuss
ich
me too
alles ist möglich
wir sind etwas besonderes
kampf
Maria Trojer, 2022
Am Anfang haben viele Menschen nicht geglaubt, dass Menschen mit Down-Syndrom Texte wie diese schreiben würden. Dabei verfügen sie über Techniken, an die Menschen ohne Down-Syndrom gar nicht herankommen könnten. So meint Katja de Bragança, Chef-Redakteurin des Ohrenkuss Magazins. “Da ist viel Zauber”, beschreibt sie den Entstehungsprozess der Texte. Die Autor:innen würden in einer unerwarteten Weise knappe Worte zu Poesie verwandeln. Man erkenne solche Gedichte sofort, vergesse sie oft nicht und könnte sie niemals selber schreiben. Deshalb würden sie auch durch jede Überarbeitung verfälscht - oder schlicht langweilig. In der Ohrenkuss-Redaktion ist daher eine Korrektur der Texte ausgeschlossen.
“Es schreiben Menschen mit Down-Syndrom, weil wir das gemacht haben!”, erklärt Natalie Dedreux. “Wir sind halt besonders.” Natalie ist unter anderem Autorin bei Ohrenkuss. Eine der jüngsten sogar. Das Ohrenkuss-Magazin wurde 1998, in ihrem Geburtsjahr, gegründet. "Dadurch bin ich gleichalt geworden!”, nennt sie es.
Down-Syndrom, Merkmale
Ich würde es sicher gar nicht merken, wenn nicht andere davon sprechen würden.
Markus Hamm, 2002
Dass Ohrenkuss nicht nur ihre Texte publiziert sondern auch Familie ist, zeigt sich in der Art wie die Texte entstehen. “Manchmal hängt einem ein Thema im Kopf und es ist schwer, das da raus zu kriegen”, berichtet Anne Leichtfuß - Redakteurin bei Ohrenkuss. Um dieses Thema einzufangen, arbeiten alle ganz eng und offen miteinander. Und wenn es dann einmal durch den Raum fliegt, greifen gleich viele danach. So individuell die Lebensrealitäten auch sein mögen, teilen die Autor:innen doch einige gemeinsame Themen. Manchmal liegt auch einfach eine handschriftliche Themenliste im Büro, die schnell zu einem Stapel vollgeschriebener Ideenpapiere wird. Anne meint: “Dann fällt schnell auf: Ideen gibt es viele.”
Ab da zählt vor allem die Augenhöhe. "Wir gestalten den Raum, gestalten das Heft. Niemand will irgendwen erziehen. Es geht nicht als Aufgabe darum, dass irgendwer irgendwas lernt. Dadurch, dass wir uns gemeinsam Dinge angucken, Dinge erleben, Texte machen, Begegnungen haben, lernen wir natürlich automatisch alle voneinander - aber es ist kein Ziel”, beschreibt Anne. Denn Autor:innen mit Down-Syndrom sind vor allem eines: Autor:innen. Natalie findet es schade, dass viele ihr ebendas oft nicht zutrauen und ihr dabei die Fähigkeit aberkennen, künstlerische Texte zu erstellen. "Die Welt sagt, Menschen mit Down-Syndrom können nicht schreiben und lesen. Aber das stimmt nicht und das möchte ich zeigen.”
Vielleicht sind einige die Sprache nicht gewohnt, vielleicht sind sie engstirnig, vielleicht wirken die schönen, schlauen Schreibfehler und interessanten Wortschöpfungen der Autor:innen für Einige auch bedrohlich. Die Autor:innen des Ohrenkuss-Magazins erwirken immerhin eine Erweiterung des klassischen lyrischen Denkens. Ihre Texte sind konsequent ehrlich und unverstellt, stellen sich über sämtliche technische Regeln und fragen uns: Wo sind wir und wo gehen wir hin?
Katja spielt ein Gedankenspiel: “Ich stelle mir vor, jemand aus Europa kommt vor 200 Jahren nach Australien und entdeckt Schnabeltiere." Als es nach Europa gebracht wurde, hätten sich die Menschen damals nicht vorstellen können, dass das Tier echt ist. “Die dachten vielleicht, das wäre aus einer Ente und einem Felltier zusammengenäht. Der Horizont war also sehr eng - die haben eng geguckt. Die Möglichkeit, sich dann überraschen zu lassen, ist der Hammer! Genauso wird irgendwann jemand auf die Spur kommen, dass Menschen mit 47 Chromosomen unsere Welt bereichern”, erläutert sie. Mit Ohrenkuss hat sich das vormals wissenschaftliche Interesse der Biologin zu einer sozialen Fantasie entwickelt.
Sie und die Redaktion von Ohrenkuss sehen es in diesem Sinne als ihre Aufgabe an, die richtigen Bedingungen zu schaffen, damit Menschen mit Down-Syndrom Großartiges schaffen können. “Ich habe immer noch nicht verstanden, was Menschen mit Down-Syndrom so anders macht, aber sie haben etwas, das andere nicht haben. Das ist vielleicht wie ein fremdes Musikinstrument zu spielen - und wir versuchen eine Atmosphäre zu schaffen, in der dieses Instrument besonders gut klingt”, erläutert Katja. Dabei spielt sie auf eine grundsätzliche gesellschaftliche Aufgabe an: Unter welchen Umständen fühlen Menschen sich gut und können gut miteinander leben? Die Antwort darauf sei einem Rätsel ähnlich und offenbare im Prinzip die Definition von Inklusion. Dieses Rätsel zu lösen, mache Spaß.
Nach jedem Lesen eines Ohrenkuss-Gedichtes verändert sich der Blick - sagt Katja. “Dieser Blick ist eine Qualität, die durch unsere Arbeit unterstützt wird: Ich sehe die Blumen und die Sonne und ich nehme die Welt schön wahr… Und dann glaub’ ich auch das Schnabeltier.”